Albanien: Vorsaison
- nanetulya
- 10. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Juni

Beim Bec Villi auf der Terrasse ist das Paradies ganz nah. Ringsum sattes Grün, gekrönt von den Felswänden der albanischen Alpen, und über allem spannt sich ein strahlend blauer Himmel. Vogelgezwitscher natürlich, ein angenehmer Wind. Von unten im Tal aber tönt bereits die neue Zeit herauf, mit Hämmern und mit Bohrern und mit Sägen.
An einem steilen Hang auf halber Höhe über dem Bergdorf Theth liegt das „Gästehaus Bec Villi“, benannt nach dem Besitzer, der mit seiner Frau und drei Söhnen hier die Urlauber umsorgt. Von der Terrasse aus hat man einen Premium-Blick auf die Erhabenheit der Natur und die Dynamik des Tourismus.
In den Foren des Internets wird Theth noch als „Europas bestgehütetes Geheimnis“ gehandelt. Die albanische Tourismusbehörde preist das Bergdorf als „verborgenen Edelstein“ an. Doch dieser Edelstein wird längst zurechtgeschliffen, wird zum Funkeln und zugleich um seine Ursprünglichkeit gebracht. Vielleicht ist das ein Lehrstück, vielleicht auch nur ein Stück Normalität. Noch ist Vorsaison, aber die Zeichen stehen auf Ansturm.
Dabei war Theth eigentlich schon fast tot, in Schönheit ausgestorben. Daliano Villi, der 24 Jahre alte Sohn des Gästehaus-Besitzers, blickt von der Terrasse aus auf die alten Zeiten zurück. Er kennt sie nur vom Hören-Sagen, doch die Geschichten werden gern erzählt - von den Wurzeln, die so wichtig sind, und auch von den Katastrophen, die erst ins Dunkel und dann zurück ins Licht führen. „Als mein Ur-Urgroßvater dieses Haus vor mehr als hundert Jahren baute, waren gerade elf seiner Brüder an der Cholera gestorben“, sagt Daliano Villi mti freundlichem Lächeln. „Als mein Vater geboren wurde, lebten 28 Menschen zusammen in diesem Haus. Zur Schule musste er 14 Kilometer laufen. 14 hin, und 14 zurück.“
Theth war wohl so etwas wie Albanien im Kleinen: arm und abgeschottet von der Welt. Hier im Dorf waren die fast 3000 Meter hohen Berge die natürliche Barriere, die „verfluchten Berge“ wurden sie in alter Zeit genannt. Jenseits der Gipfel sorgte die Paranoia des Diktators Enver Hoxha für die totale Isolation des Landes mitten in Europa. Von 1945 bis zu seinem Tod 1985 hielt er Albanien im Klammergriff. Er brach mit der Sowjetunion, als Stalins Nachfolger ihm zu lasch erschienen. Er wandte sich von China ab, als Maos Erben ans Ruder kamen. Was Hoxha von der Außenwelt hielt, das kann man in einem Museum in der Hauptstadt Tirana auf einer Schautafel nachlesen: „Die Volksrepublik Albanien ist geschlossen für Feinde, Spione, Hippie-Touristen und andere Vagabunden.“
Die Festung Albanien brach erst 1991/92 unter wütenden Protesten der Bevölkerung zusammen. Die Revolution begann im Norden nicht weit von Theth in der Stadt Shkodra. Danach gab es kein Halten mehr. „In den Neunzigerjahren ist mein Vater zum Arbeiten nach Griechenland gegangen“, erzählt Daliano Villi. „Ganz Theth war plötzlich auf Mykonos.“
Von vormals 7000 Einwohnern im langgestreckten Tal von Theth waren im Jahr 2010 nur noch 80 übrig geblieben. Es war dann der Tourismus, der die Abwanderung umdrehte. 2011 kehrte die Familie Villi nach Albanien zurück, 2014 haben sie zum ersten Mal Gästezimmer vermietet im alten Steinhaus der Ahnen, für fünf Euro die Nacht. Von da an ging alles ganz schnell. Das „Gästehaus Bec Villi“ ist heute, wie Dutzende andere in Theth, auf booking.com zu finden. „Es ist wie eine große Explosion, eine verrückte Explosion“, findet Daliano Villi.
2022 wurde die alte Schotterpiste, die von Shkodra über die Berge führt, durch eine asphaltierte Straße ersetzt. Das hat sich schnell herumgesprochen, auch unter Wohnmobilisten und Motorradfahrern. Im Dorf kann man jetzt Pizza essen und Wanderproviant in einem Laden kaufen, der „Cheap Market“ heißt. Neue Gäste-Unterkünfte schießen wie einst Hoxhas-Betonbunker aus dem Boden, heute allerdings im Schweizer Chalet-Stil mit viel Holz und Glas und einem Blechdach obendrauf, weil es ja doch schnell gehen und billig sein muss.
Auf herrlichen Wanderungen kann man immer noch die unberührte Natur erleben und dabei auf mehr Schlangen als Menschen treffen. Doch man kann auch schon per Zip-Line ins Tal hinuntersausen, und der türkisfarbene, von einem Wasserfall gespeiste Naturpool namens „Blue Eye“ ist längst zum Instagram-Hotspot geworden. „Wenn es so weiter geht, sieht das hier in fünf oder zehn Jahren aus wie eine Stadt“, meint Daliano Villi. Von einer geplanten Fußgängerzone zwischen Brücke und Kirche hat er schon gehört und auch von irgendwelchen Clubs, die nächtliche Unterhaltung bieten könnten.
Theth also, das schon fast tot war, blüht auf zu neuem Leben, zumindest in den Sommermonaten von Juni bis September. „Das ist gut, aber ich habe auch Angst, dass es zu schnell geht“, sagt Daliano Villi. Er weiß die neue Zeit durchaus zu schätzen. Das Gästehaus mit seinen vier Fremdenzimmern wirft in einer Nacht mehr ab als den Monatslohn eines Lehrers. Eine Arbeit in der Stadt zu suchen, lohnt sich nicht für ihn - und er fährt trotzdem einen schwarzen BMW mit getönten Scheiben, der am Hang neben dem Gästehaus parkt und von ihm in jeder freien Minute vom Staub befreit wird.
Aber er sorgt sich zugleich darum, was dieser Schleudergang aus dem Tal und aus dem Land noch macht. „Wir sind sehr schnell von der Diktatur in die Freiheit gewechselt“, sagt er, und nicht mal ein junger Mann wie er kann die Freiheit nur als Vorzug sehen. Er schwärmt vom Kanun, dem mittelalterlichen Ehrenkodex Albaniens, der hier im Tal einst alles bestimmte von der Gastfreundschaft bis zur Blutrache: „Das war eine gute Zeit, da gab es klare Regeln.“ Und auch die Zeiten Hoxhas erscheinen ihm heute schon im milden Licht. „Es gibt hier einen Spruch“, sagt er. „Weckt Enver wieder auf.“
Vieles wäre dazu noch zu sagen. Doch Daliano Villi muss nun wieder an die Arbeit. Muss sich um die Gäste kümmern. Muss den SUV polieren.
Theth, im Juni 2025
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