Türkei II: Zugluft
- nanetulya
- 27. Juli
- 4 Min. Lesezeit

Es ist noch hell, die Luft noch heiß, als am Bahnhof von Ankara der Schaffner das Zeichen zur Abfahrt gibt. Um 18 Uhr setzt sich der Dogu-Ekspresi in Bewegung. Pünktlich natürlich. Der Name gibt die Richtung vor, dies ist der Zug nach Osten, von der Hauptstadt bis ans Ende der türkischen Welt, bis nach Kars an der Grenze zu Armenien. Einmal quer durch Anatolien, auf einer Strecke von 1310 Kilometern, mit 47 Stationen und einer Fahrtzeit von 26 Stunden. Wenn es pünktlich bleibt.
In Ankara zeigt sich die Republik mit aller Macht von der modernsten Seite. Der Bahnhof ist ein Koloss aus Glas und Stahl, einem Flughafen ähnlich, mit Rolltreppen und Sicherheitssperren. Gebaut ist er allerdings nur für die Hochgeschwindigkeitszüge, die von hier nach Istanbul oder Konya brausen. Zum Ost-Express nach Kars gelangt man erst, wenn man, mit freundlicher Hilfe, durch einen unscheinbaren Hinterausgang zum ursprünglichen Bahnhof findet. Es ist ein Gebäude aus altersgrauem Stein. Am Bahnsteig warten die, die Zeit haben und Zeit brauchen - und dafür immerhin von Mustafa Kemal Atatürk persönlich verabschiedet werden.
Auf einem Abstellgleis prangt sein Bildnis an einem stolz ausgestellten Waggon, in dem der Republikgründer einstmals seine Inlandsreisen unternommen hatte - wenn er nicht gerade mit dem ebenfalls sehr geliebten Cadillac unterwegs war. Nach dem Zusammenbruch des osmanischen Reichs war der Eisenbahnbau ein zentrales Vereinigungselement seiner neuen Republik, und auch der Dogu-Express geht auf Atatürks Inititive zurück. Ende der Dreißigerjahre rollte er zum ersten Mal in den fernen Osten des Landes. Zug um Zug sollten so die abgelegenen Regionen mit den Wirtschafts- und Bildungszentren Ankara und Istanbul verbunden werden.
Wer sich heute auf die Reise macht, erlebt die Türkei aus der Fensterperspektive und kann es sich dabei in fünf Großraumwaggons, einem Speise- und einem Liegewagen bequem machen, in dem der Schaffner abends die Bettwäsche verteilt. Vorn verrichtet eine 3300 PS-starke Diesellok ihre Arbeit, die auf 100 km/h beschleunigen kann, theoretisch zumindest. Praktisch geht es gemächlich gen Osten und ziemlich lange noch durch Ankara mit seinen immergleichen Häuserquadern für sechs Millionen Einwohner. Doch noch bevor es Abend wird an diesem Sommertag, liegen goldbraune Hügel im letzten Licht, und vom engen Zugabteil aus lässt sich zum ersten Mal die Weite des Landes erahnen.
Die anschließende Nachtruhe darf man durchaus als Segen empfinden, denn vor noch gar nicht langer Zeit hat sich der Ost-Express als „Party-Zug“ einen Namen gemacht. Ein paar Videos auf Instagram hatten für den fröhlichen Hype gereicht. Plötzlich waren alle Plätze schon weit im Voraus ausverkauft. Es gab Musik und Tanz und sogar Heiratsanträge im Zug für ein Leben auf dem gleichen Gleis. Manche Reisende schmückten ihr Abteil mit Lichterketten, die weniger Romantischen hingen für ein Selfie auch mal aus der offenen Zugtür heraus.
Heute ist auch das schon wieder Geschichte. Es reisen die, die von A wie Ankara nach K wie Kars wollen, und der Weg ist nicht das Ziel, sondern der Weg ist weit. Arbeiter und Angestellte sitzen im Zug, kinderreiche Familien, Frauen mit bedecktem Kopf neben Frauen schulterfrei - das ganze Spektrum dieser Gesellschaft, die bei allen Problemen doch noch relativ entspannt in zwei Jahrhunderten und zwei Welten zusammenzuleben scheint.
Im Speisewagen kommt man zusammen, kommt ins Gespräch. Es ist ja immer so auf Reisen, dass man viele Menschen trifft - Zufallsbekanntschaften, wenn sich die Wege kreuzen. Im Zug jedoch kreuzen sich keine Wege, sondern sie laufen parallel. Dem Zufall wird so mehr Zeit geschenkt, und die gilt es zu nutzen. Für ein Gespräch mit dem mitreisenden Lehrer zum Beispiel, der einst fünf Jahre in Deutschland unterrichtete und statt von Kars von Karlsruhe schwärmt. Seine Verbundenheit mit der „zweiten Heimat“, wie er sie strahlend nennt, pflegt er durch regelmäßiges Zeitungslesen auf Deutsch. „20 Minuten jeden Tag“, sagt er. Im Vorbeigehen schnappt ein anderer den deutschen Dialog auf, ein großer, dünner Mann, von Krankheit gezeichnet. Auch er hat seine Erfahrung gemacht mit Almanya. Mit schüchternem Lächeln entschuldigt er sich, dass er die Sprache nicht besser spricht. Aber ein Wort hat er sich gut gemerkt: „Abschiebung“.
Viele Schicksale, zahllose Geschichten - und alle Unterschiedlichkeit vereint in einem Zug mit gemeinsamem Ziel. Irgendwann vor Mittag ist der Euphrat erreicht, der die Großzügigkeit besitzt, für mehrere Stunden den Ost-Express zu begleiten. Grün schimmernd schlängelt sich der Fluss durch enge Schluchten, bewässert bald darauf einen Garten Eden mit Maulbeerbäumen und Bananenstauden, lässt Getreide, Gemüse und Nüsse gedeihen. In der Ferne liegt Schnee auf hohen Gipfeln. Der Zug fährt durch menschen- und straßenlose Landschaften dem zweiten Sonnenuntergang entgegen.
So weit nach Osten ist man nun gereist, dass die Sonne fast eine Stunde früher untergeht als in Ankara. So hoch hinauf hat es der Zug unter Ächzen und Stöhnen geschafft, dass die Temperaturen auf 1800 Metern plötzlich wieder einen Pullover nötig machen. Beim Ausstieg steht der Schrittezähler auf dem Handy fast noch bei Null, doch mehr als 1300 Kilometer sind geschafft. Nichts ist passiert, doch der Tag im Dogu-Express war voll mit Erlebnissen. Und bei nur drei Stunden Verspätung erreichen wir Kars sogar noch vor Mitternacht.
Kars, im Juli
Spannend, toll beschrieben! Danke Peter!