Bosnien: Stadt mit Narben
- nanetulya
- 7. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Okt.

Gedenktafel für Nina Zeljković in Sarajevo
Nina war ein fröhliches Kind. Ein hübsches Mädchen von zwölf Jahren, braune Haare, wacher Blick. Sie liebte den Tanz, sie hasste den Krieg. An einem Eckhaus im Stadteil Gorica von Sarajevo steht ihr Name auf einer Gedenktafel: „Liebe Nina, durch diese Straße bist du in die Schue gegangen, und aus dieser Straße bist du in die ewige Ruhe weggegangen. Du wirst in unseren Gedanken leben.“
30 Jahre ist es nun her, dass der Krieg in Sarajevo wütete. Von April 1992 bis November 95 machten serbische Truppen von den umliegenden Bergen aus das Leben in der Stadt zur Hölle. 1395 Tage lang dauerte die Belagerung. Es gab kaum Lebensmittel und wenig Wasser. Das Einzige, was es reichlich gab, waren Gewehrkugeln und Granaten. Fast 12.000 Menschen wurden in Sarajevo in diesem Krieg getötet. 1600 Kinder waren darunter, und das letzte von ihnen war Nina Zeljković. Sie starb im Herbst 1995. Auf dem Schulweg wurde sie Opfer eine Granate. Der Frieden von Dayton, der kurz darauf unterzeichnet wurde, kam für Nina zu spät.
30 Jahre sind eine lange Zeit. Die Welt dreht sich weiter, und wer heute durch Sarajevo geht, der sieht Cafes, brechend voll mit Gästen, sieht Modeläden mit teuren Marken. Geschäftiger Alltag in einer lebendigen Stadt. Für die Touristen, die in wachsender Zahl nach Sarajevo kommen, wird der Krieg nur noch als gruseliges Souvenier feilgebogen in Form von Kugelschreibern aus Patronenhülsen.
Doch wer den Kopf hebt beim Gang durch Sarajevo, der sieht an vielen Fassaden noch die Einschusslöcher, als Muster des Grauens, als Narben des Krieges. Und wer in die Köpfe der Bewohner von Sarajevo schauen könnte, der würde wohl schnell gewahr, dass der Krieg nur militärisch geendet hat. In den Köpfen geht er weiter, und politisch wird das angeheizt von den nationalistischen Führern aller drei Volksgruppen, die sich damals bekämpften, von den Serben, Kroaten und muslimischen Bosniaken. So hat dieser Krieg sich festgefressen in der Sadt und besonders in den Seelen all jener, die nicht vergessen können, was sie erlebt oder wen sie verloren haben.
Zuhause bei der Familie Zeljković hängt Ninas Bild im Flur, weitere Fotos stehen auf der Anrichte. Die Eltern Zemka und Hike wohnen hier im Erdgeschoss, darüber lebt Ninas ältere Schwester Belma mit ihrem Mann und zwei Kindern. Die Familie bleibt eng zusammen. Das, was von ihr übrig ist.
Direkt nach Ninas Tod hatten sie es nicht mehr ausgehalten in Sarajevo und waren in die USA geflüchtet. Doch nach neun Jahren hatten sie es auch in der Fremde nicht mehr ausgehalten und waren zurückgekehrt nach Sarajevo. „Der Friedhof meiner Tochter ist hier“, sagt Zemka Zeljković. „Ich könnte nie irgendwo anders bleiben.“
Es ist, als lebte die Familie Zeljkovic mit zwei Uhren, in zwei Zeiten. Im Hier und Jetzt wird gearbeitet, gekocht und gelacht. Die Zeit vergeht, und die Enkel von Zemka und Hike sind heute schon älter als ihre tote Tochter. Nina aber bleibt für immer zwölf, auf den alten Fotos und auch in ihrem Tagebuch, das Zemka hütet wie einen Schatz.
Im Juni 1995 hatte Nina mit dem Schreiben begonnen. Drei Monate bis zu ihrem Tod hat sie dem Tagebuch ihre Erlebnisse, Gedanken und Gefühle anvertraut. Freude war dabei, zum Beispiel über diesen Tanzwettbewerb im Latin Dance, auf den sie wochenlang hinfieberte. Hoffnung schimmerte durch, wenn sie schrieb: „Bald ist Sarajewo befreit.“ Aber auch vom Hunger berichtete sie, wenn es wieder mal nichts zu essen gab im Haus. Und auch von der Angst, wenn in der Nachbarschaft eine Granate eingeschlagen war. An einem dieser düsteren Kriegstage schrieb sie ins Tagebuch: „Warum? Sie töten unsere Seelen, die nur dafür existieren, um zu lieben. Ihr sollt verdammt sein. Aber trotzdem werde ich sie nicht verfluchen, weil sie auch Väter von Kindern sind, die Frieden und Glück suchen.“
Mit diesem Tagebuch ist Ninas Mutter später irgendwann zur Bürgermeisterin von Sarajevo gegangen. Ihr Idee, ihr Wunsch: Die Kinder in der Schule sollten von Ninas Geschichte erfahren. Sie sollten daraus lernen, wie es im Krieg war und was Krieg bedeutet. Die Bürgermeisterin zeigte sich interessiert, doch nach der nächsten Wahl schon saß dann ein anderer auf ihrem Stuhl. Am Ende ist nichts daraus geworden. „Sie wollen den Deckel nicht mehr hoch heben“, glaubt Ninas Familie heute.
Das Leben geht weiter, und vielleicht hat in Sarajevo auch einfach jeder genug zu tun mit den eigenen Zukunftsplänen und den eigenen Wunden der Vergangenheit. Die offizielle Erinnerung wird dann fast schon routiniert in Denkmäler gegossen wie in jenen gläsernen, in zwei Teile gerissenen Kegel, der im Veliki Park etwas außerhalb vom Zentrum an die im Krieg getöteten Kinder erinnern soll.
Den Eltern der toten Kinder von Sarajevo war das offenbar zu wenig, zu unpersönlich. Fast 30 Jahre nach Kriegsende hat ein von ihnen gegründeter Verein im Herbst 2024 nicht weit entfernt von diesem offiziellen Mahnmal einen Gedenkraum eröffnet. Ein verspiegelter Kubus steht im Zentrum, die „Memory Box“. Es ist ein Schrein mit vielen Schubladen, in denen einzelne Erinnerungsstücke an die Kinder aufbewahrt werden.
Auch Zemka Zeljković hat etwas von Nina zu dieser Memory Box gebracht. Sogar die Fernseh-Nachrichten haben darüber berichtet. Zemka zeigt ein Video davon auf ihrem Handy. Ein Video, in dem sie weint und Ninas Tanzkleid in eine der Schubladen legt. Es ist ein Dress in Pink und Schwarz, mit Pailletten besetzt. Am Tag vor ihrem Tod hat es Nina noch beim Latin-Wettbewerb getragen. Ein Foto von ihr in diesem Tanzdress liegt auch in der Schublade. Sie sieht darauf aus wie eine kleine Prinzessin. Nina war ein fröhliches Kind.
Sarajevo, 7. Juni 2025



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