Georgien: Europa, vom Balkon aus betrachtet
- nanetulya
- 2. Aug.
- 3 Min. Lesezeit

Von einem Mäuerchen schräg gegenüber bietet sich ein guter Blick auf das georgische Parlament: auf den sorgsam gepflegten Grünstreifen, auf die sprudelnden Wasserspiele, auf die Säulenreihe des stalinistischen Wuchtbaus - und auf ein gelbes Band, mit dem all das rundherum abgesperrt wird. „Do not cross“ ist da sogar auf Englisch aufgedruckt.
Das Parlament ist zum Sperrgebiet erklärt worden an diesem sengend heißen Mittag, zumindest auf Zeit. Neben dem Absperrband haben sich ein paar Kamerateams aufgebaut - es kann ja immer was passieren. Und aus dem gleichen Grund sind in den Nebenstraßen die Polizeiwagen aufgefahren. Spannung pur also? Nichts davon, eher so was wie Konflikt-Routine und Machtgehabe. Schon nach kurzer Zeit sind die Kameras verschwunden und ein Polizist rollt ohne Eile das gelbe Band zusammen. So willkürlich wie die Absperrung wirkt nun auch deren umstandslose Aufhebung.
Wer wissen will, was das alles soll, kann jetzt immerhin wieder die Stufen hinaufgehen zu jenem jungen Mann im weißen Shirt, der auf einem Campingstuhl einsam zwischen den Säulen des Parlamentsgebäudes ausharrt. Hinter ihm sind zwei Zelte aufgebaut, gefüllt mit Schlafsäcken und Matratzen. Über ihm spannt sich ein Protestbanner, auf dem in schwarzen Lettern steht: „Sanktionen gegen Putins Marionette Ivanishvili und seine pro-russische Regierung“.
Bidzina Ivanishvili ist der starke Mann in Georgiens Politik, und obendrein der Reichste im Land mit einem Vermögen, das er in Russland verdiente. Er und die von ihm gegründete Regierungspartei „Georgischer Traum“ sind die Protagonisten in den fortgesetzten Albträumen der Opposition, in denen es um Wahlbetrug geht oder um demokratiefeindliche Gesetze. „Ich möchte, dass die ganze Welt versteht, um was es hier geht“, sagt der junge Aktivist, der sich als Giorgi Stepanov vorstellt. „Ich will, dass wir zu Europa gehören und vor Russland geschützt werden.“
Es ist ein Konflikt, der Georgiens Politik seit langer Zeit schon dominiert. Geschuldet ist er der geopolitischen Lage des Landes, aber auch dem Zeitgeist, der sich überall zerrissen zeigt. Im Ringen zwischen Regierung und Zivilgesellschaft geht es im Kern darum, wohin der Weg des Landes führt - in Richtung Autokratie nach dem Vorbild Russlands, oder Freiheit, für die Europa steht, genauer gesagt die Europäische Union.
Georgien ist beileibe nicht der einzige Schauplatz dieses Kampfes. In Serbien zum Beispiel und auch andernorts demonstrieren die Studenten mit ganz ähnlichen Rufen. Doch wohl nirgends wird die Konfrontation gerade mit solcher Härte und Hartnäckigkeit geführt wie in Tiflis, wo seit vielen Monaten an jedem einzelnen Tag demonstriert wird, wo immer wieder Parolen auf Polizeiknüppel treffen, wo es für die Demonstranten um alles geht oder um nichts.
Von Georgien, dem viel zitierten „Balkon Europas“ aus, lohnt sich also ein Blick von etwas weiter oben und etwas weiter weg nach Westen. Ein Blick darauf, was das eigentlich ist, dieses Europa, auf das die Demonstranten ihre Sehnsucht und ihre Hoffnung richten. Es ist ein Blick vom Balkon, bei dem sich viel mehr Fragen auftun als Antworten finden lassen.
Europa, von Georgien aus betrachtet, ist ein mindestens zweigeteilter Kontinent - geteilt jedoch nicht mehr in Ost oder West, Nord oder Süd, sondern in Oben und Unten, in Drinnen und Draußen. Wer drin ist in der EU, darf über Brüsseler Bürokratie und Regelungswut schimpfen. Wer draußen ist, wird angezogen von den Gründungswerten, vom Wohlstand und der Verheißung von Frieden und Freiheit.
Drinnen ist mindestens die Freiheit in solchem Maße selbstverständlich geworden, dass ihr nicht wenige schon überdrüssig zu sein scheinen, weshalb ein anti-liberales Lager wächst und wuchert. Draußen, in Georgien, ist der Freiheitsplatz von Tiflis buchstäblich nur einen Steinwurf vom Parlament entfernt. Um die Freiheit wird gekämpft. Für die Freiheit und für Europa, so sagt es kundiger Beobachter, „ist man hier noch bereit, sich aufs Maul hauen zu lassen.“
Ein gängiger Spruch zum europäischen Status quo besagt, dass man in der EU so tut, als wolle man all die Beitrittsaspiranten aufnehmen - und die Kandidatenländer so tun, als wollten sie tatsächlich aufgenommen werden. Ein falsches Spiel also, mit dem sich alle Seiten arrangieren, um Probleme zu vermeiden. Wie falsch dies aber ist, beweisen die Zivilgesellschaften, zum Beispiel in Georgien, mit ihren mutigen Protesten, die einen klaren Willen für Europa demonstrieren.
Aber hat Europa noch genug Kraft, diesen Mut zu honorieren? Und haben die Demonstranten genug Kraft, nicht vom Mut in die Verzweiflung zu kippen? Vor dem umkämpften Parlament in Tiflis steht Giorigi Stepanov, der Aktivist, und sagt tapfer: „Das Wichtigste ist, dass Europa zu uns steht. Ich weiß, dass sie alles tun, was sie können. Ich bin sehr dankbar dafür.“
Tiflis, Juli 2025
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