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Auf in die Welt!

Aktualisiert: 18. Mai

Es gibt vieles, was gegen das Reisen spricht.

Aber kann man deshalb guten Gewissens nur noch

auf der Couch bleiben?

Auf in die Welt!
Auf in die Welt!

wir gehen auf Weltreise, meine Frau und ich, und wenn wir das erzählen, dann ernten wir meist nette oder neidvolle Bemerkungen: Ist ja toll, würde ich auch gern mal machen und so weiter. Natürlich tut uns das gut, dieser Balsam des Besonderen, es bestärkt und es schmeichelt uns. Nur bei einem alten Freund hat die Masche nicht verfangen. Er sagte nur:

"Och, ich sitz auch ganz gern mal auf meiner Couch."


Da reden wir also immer wieder mit Freuden darüber, wohin wir reisen. Und plötzlich stellt uns die Reaktion des gänzlich unbeeindruckten Freunds vor die Frage, warum wir reisen? Vielleicht sogar: Warum wir überhaupt noch reisen?


Denn tatsächlich ist die Bequemlichkeit ja schon der erste naheliegende Grund, vielleicht doch lieber zu Hause zu bleiben, auf der eigenen Couch, im eigenen Bett, im ganzen Gewohnten. Warum sollte man all das, wenn auch nur auf Zeit, gegen Unbekanntes und womöglich Unbequemes eintauschen? Und obendrein gibt es da noch ein paar andere, deutlich schwerwiegendere Dinge, die ganz schnell jede Reisefreude trüben können.


Man muss sich nicht einmal mit Alexander von Humboldt messen wollen, um zu erkennen, dass es in der Welt nur noch wenig zu entdecken gibt. Das meiste kann man sogar vom Sofa aus mit Google Earth erkunden. Fast alles ist erschlossen, und vieles davon so gründlich, dass die Tourismusindustrie längst breitflächig dazu übergegangen ist, mit „Reisen jenseits der ausgetretenen Pfade“ zu werben. Wohin das führt, haben wir einmal auf Bali erlebt. Wir strandeten bei einer Wanderung vor einem Schild mit der Aufschrift: "Ihr Lonely-Planet Reiseführer ist falsch. Dies ist ein Privatweg, und er führt nicht durch die Reisfelder".


Es war der Aufschrei eines gequälten Anwohners, denn für nicht wenige Gegenden ist Overtourism zum kolossalen Problem geworden. Zu den negativen Folgen des Reisens zählt auch der Touristenmüll, der sich bis hoch hinauf zum Mount Everest türmt. Knappe Ressourcen werden in solchem Maße verbraucht, dass beliebte Ferieninseln im Sommer per Schiff mit Wasser versorgt werden müssen. Und jeder Flug nach Thailand hinterlässt einen hässlichen CO2-Fußabdruck.


Es gibt also vieles, was gegen das Reisen spricht. Kann man deshalb guten Gewissens nur noch zu Hause bleiben, auf der Couch? Oder kann man trotzdem noch ohne schlechtes Gewissen losfahren?


Wer als Reisender sein Gewissen beruhigen will, der grenzt sich gern vom Touristen ab. Hier die Guten, da die Bösen, die durch ihre schiere Masse all das zerstören, was sie suchen. Doch diese Unterscheidung – siehe das Schild auf Bali – ist oft zu einfach und schnell mal elitär, weil sie ignoriert, dass es für zwei Wochen Erholung auf Mallorca genauso gute Gründe geben kann wie für eine Rucksack-Erkundung von Borneo. Und neu ist solche Touristenschelte schon gar nicht. Gern zitiert wird Gerhart Hauptmann, überliefert von anno 1897:„Da strömen die Leute nach Italien, jeder Barbier und jeder Schlachter tut es. Die ganze zähe träge Masse des

deutschen Philistertums wälzt sich über die Berge.“


Doch wenn heute immer noch alle reisen wollen und wegen des schlechten Images kaum einer Tourist sein will, dann kann der Weg zum bewussteren, nachhaltigeren Reisen eigentlich nicht mehr so weit sein. Auch mit Bussen und Zügen kommt man ans Ziel. Bei Flügen gibt es die Möglichkeit, per Mausklick eine freiwillige Kompensation für Treibhausgase zu zahlen. Das ist gewiss nicht die Lösung aller Probleme, aber es ist besser als nichts. Und vertrauen kann man auch auf die alte Weisheit, dass Reisen bildet. Wer sich aufmacht in die Welt, der wird hoffentlich schnell auch lernen, wie wichtig es ist, sie zu schützen.


Wie man reist, ist letztlich eine sehr persönliche Entscheidung. Doch dass man reist, entspringt offenkundig einem menschlichen Grundbedürfnis – nach Erholung, nach Tapetenwechsel, nach Aufbruch und Abenteuer. Im Kern geht es dabei immer um Neugier und um Sehnsüchte. Was diese Sehnsucht auslöst, kann bei jedem etwas anderes sein. Wer etwas auf sich hält, mag sich von Goethe, dem Italien-Reisenden, inspirieren lassen. Andere werden von Karl May ins wilde Kurdistan gelockt. Bei mir wurde das Fernweh getriggert, bevor ich überhaupt lesen konnte:durch einen Flughafen. Das Elternhaus stand in der Einflugschneise, Düsseldorf-Lohausen. Beim Landen konnte man den Piloten fast in die Augen schauen, so tief flogen sie über unseren Garten. Beim Starten konnte man sich hinterherträumen.


Das war die große weite Welt, allerdings erst einmal nur als Verheißung. Unsere Urlaube führten in den Schwarzwald oder nach Oberbayern, und für die Anfahrt mit dem Opel Rekord nahmen sich meine Eltern drei Tage Zeit, zum Akklimatisieren. In ein Flugzeug gestiegen bin ich zum ersten Mal mit fast 20 Jahren, nach dem Abitur und ein paar Jobs, um die Reisekasse zu füllen. Damals, in den frühen Achtzigerjahren, hieß das noch nicht Gap Year. Für mich war vor allem wichtig, dass es weit weg ging. Diese erste Reise führte also nach Neuseeland, das war am weitesten weg. Es hätte sonst auch Neufundland sein können.


Seither betrachte ich das Reisen als beste aller Lern- und Lebensformen, und das gilt für alle Arten des Reisens: für Familienurlaube mit den Kindern, für Abenteuerreisen und sogar für Dienstreisen. Der Reiz liegt im Aus- und Aufbruch und darin, unterwegs und woanders zu sein. Doch das, was man den Mehrwert nennt, reicht noch viel weiter. Das Reisen nämlich sorgt für dreifachen Gewinn: zuerst mit der Vorfreude, dann durch das Erlebnis selbst und schließlich beim Erinnern.


Los geht es, lange bevor der Rucksack oder der Rollkoffer gepackt wird. Im ersten Schritt füllen sich die Regale mit noch mehr Reiseführern. Dann kreisen die Gedanken ums Zielgebiet. Jakarta klingt toll, aber Yogyakarta noch toller – allein wegen der Vorsilbe, und dann kommen noch die Tempel dazu. Die möglichen Reiserouten werden vorab gecheckt, in den Unterkünften lässt es sich dank des Internets prächtig probewohnen. Die Vorfreude ist ein pures Glücksversprechen – aber es bleibt ein Versprechen im Konjunktiv.


Natürlich gibt es auf Reisen dann die Momente, in denen sich all das erfüllt. Das pure Glück kann sich einstellen, wenn ein lange gehegter Traum wahr wird – zum Beispiel beim Besuch des Taj Mahal in Indien, vor dem ich mit feuchten Augen in der Schlange stand, weil dieses Grabmal trotz des Andrangs in Wirklichkeit noch viel schöner und vollkommener

ist als auf allen Bildern. Das Glück kann einen auf Reisen aber auch völlig unerwartet überwältigen, selbst an Orten, die als ziemlich ungemütlich gelten. An einem kalten Morgen in Kabul kann sich die Welt für den Moment vollkommen rund anfühlen, wenn das erste Licht auf die kahlen

Berge fällt und ein paar Fahrradfahrer in dicke Decken gehüllt friedlich ihres Weges ziehen.


Doch es gibt auch das Gegenteil, die Enttäuschung, wenn auf Reisen Wille und Vorstellung auf die Wirklichkeit der Welt treffen. Mancher Sehnsuchtsort sieht anders aus als im Prospekt, und er riecht auch anders. Die Sonne scheint zwar beständig, aber führt ganz schnell zu Sonnenbrand. Man sucht Arkadien und findet nur Alltag.


Da muss man durch, so ist das oft – und so muss das sein. Denn beim Reisen geht es nicht um die Suche nach dem ewig Schönen. Sehenswürdigkeiten sind am Ende nur Beiwerk, weil das Wesentliche meist nebenher passiert. Nach Jaipur in Indien bin ich einmal gefahren wegen des viel gerühmten Palasts der Winde. Hawa Mahal, wie der Kundige weiß, errichtet 1799 vom Maharadscha Sawaj Pratap Singh. Schönes Bauwerk in Rosa, tolle Geschichte von den Haremsfrauen, die hinter der Fassade

unentdeckt das Treiben draußen beobachten konnten.


Doch was sich am Ende bei mir tief eingegraben hat von dieser Reise durch Rajasthan, war eine staubige Straßenkreuzung, an der ich mit einem Glas Tee in der Hand stundenlang selbst das Treiben draußen beobachtet habe–aus lauter Langeweile, weil meine Reisebegleitung, auch das kommt vor, mit Darmproblemen im Hotelzimmer lag.


Reisen schafft eine eigene Zeit und eigene Räume, die man für Beobachtungen nutzen kann und ganz besonders auch für Begegnungen. Nirgendwo anders als unterwegs trifft man sich so niederschwellig – mit anderen Reisenden und auch mit jenen, die in den Reiseführern oft so seltsam als „Einheimische“ beschrieben werden. Manche Reisende mag das dazu verleiten, sich wie Kolonialherren aufzuführen. Andere betreiben einen Kult, als ginge es um die „Edlen Wilden“, wie sie schon von Rousseau und den Romantikern idealisiert wurden. Doch die meisten entdecken dann doch, dass es schlicht Menschen sind wie wir.


Überhaupt ist das Reisen ja das beste Mittel gegen Vorurteile, und wer sich in derFremde selbst als Fremder erlebt, sollte gegen Fremdenhass gewappnet sein. Nicht ums Urteilen geht es beim Reisen, sondern ums Verstehen. Man braucht überdies auch keine klare Vorstellung davon, was man vorfinden will, sondern eine Offenheit dafür, was einem passiert. Pannen können sich dabei als Segen erweisen, weil sie das sorgsam Geplante in eine ungeplante und oft interessantere Richtung stoßen können. Selbst Ereignislosigkeit kann zum Erlebnis werden wie jener Tag an einer Landstraße auf der neuseeländischen Südinsel, damals auf der ersten Reise.


Da stand ich zum Trampen, mit ausgestrecktem Daumen, und stand und stand und stand. Von den wenigen Autos, die dort vorbeifuhren, wollte keines halten, und am Abend schlug ich mein Zelt am Straßenrand wieder exakt an jener Stelle auf, an der ich es am Morgen hoffnungsfroh abgebaut hatte. Es gibt wenige Tage in meinem Leben, an die ich mich so genau erinnern kann – an den Himmel, die schnell ziehenden Wolken und an das Grau des Asphalts.


Worüber ich damals laut geflucht habe, erzähle ich bis heute gern. Wer unterwegs ist, bringt meist auch einen Haufen guter Geschichten heim. Das birgt ein paar Gefahren – vom Dia-Abend bis zur Warnung:Achtung, Opa erzählt vom Reisen. Aber insgesamt gehört ein solcher Schatz von Anekdoten gewiss zu den besten Renditen des Reisens. Die Erinnerung kann es sich überdies leisten, sich auf die Essenz zu konzentrieren. Im Gedächtnis haften bleibt nicht die Mühsal einer langen Fahrt im schaukelnden Bus, sondern der Halt auf einem bunten Markt, wo es diesen frisch gepressten Fruchtsaft gab.


All diese Erinnerungen aber muss man sich verdienen, und dazu muss man sich aufmachen. Ob man das als junger oder älterer Mensch tut, ist grundsätzlich egal. Sicher gibt es in der Jugend mehr Spontanität und unbeschwerten Spaß, weniger Rheuma und Ruhebedürfnis. Aber für fast alle Reisenden gilt, dass die Neugier stets frisch geweckt, die Begeisterung immer wieder neu entfacht wird. Das ist dann auch manche Strapaze wert.


Im besten Fall, wenn alles erlebt, genossen und durchlitten ist, freuen wir uns dann am Ende der Weltreise auch darauf, wieder auf unserer Couch zu sitzen. Wahrscheinlich aber werden auf dem Couchtisch schnell wieder ein paar neue Reiseführer liegen.


Aus der Süddeutschen Zeitung vom 26./27. April 2025

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