top of page

Armenien: Die Leichtigkeit des Jazz


ree


Wenn man Glück hat, dann liegt Eriwan am Ararat. An klaren Tagen ist der Berg zum Greifen nah. Er thront wie selbstverständich über der armenischen Hauptstadt, und sein schnee- und wolkenweißer Gipfel, stattliche 5137 Meter hoch, bildet den natürlichen Übergang von der Erde zum Himmel.


Wenn Nelly Manukyan Glück hat, dann sieht sie den Ararat im Abendlicht von der Bühne aus. Die Bühne liegt hoch oben im 12. Stock des Paris Hotels, die Gäste sitzen im hellen Plüsch an fein gedeckten Tischen, und sie steht vorn mit ihrer Band: Sechs Männer an Keyboards, Percussions und am Bass - das ist der Background, wenn sie zum Solo mit der Flöte ansetzt. „Wenn ich spiele, bin ich glücklich“, sagt Nelly Manukyan.


Latin-Jazz wird hier gespielt, mit solchem Können und solcher Leidenschaft, dass es eigentlich egal ist, ob Kuba nun zum Kaukasus gehört oder nicht. Das ist nur Geographie und hat nichts mit dem Glück und dem Gefühl zu tun, dass Nelly Manukyan beim Spielen empfindet und das Publikum beim Zuhören. Und nicht viel anders verhält es sich vielleicht auch mit dem Ararat, bei dessen Anblick sie ebenfalls von „Glück“ spricht. „Jeder Armenier ist verbunden mit dem Ararat“, sagt sie, „und es ist egal, dass er heute in der Türkei liegt: Er ist unser.“


Der Ararat, heiliger Berg und Nationalsymbol der Armenier, liegt 65 Kilometer von Eriwan entfernt, doch zwischen der Stadt und dem Berg verläuft eine fest verschlossene Grenze. Die Geographie ist, anders als beim Latin-Jazz, in diesem Fall allerdings keine spielerische Variable, sondern ein betoniertes Faktum. Die Grenze ist das Resultat einer Geschichte, die nie gnädig war mit Armenien und allzu oft grausam.


Am Ararat hängt deshalb all die Sehnsucht der Armenier über die fortgesetzten Verluste. Schließlich war dies einst ein Großreich, das vom Mittelmeer bis zum Kaspischen Meer reichte, von Anatolien bis zum Kaukasus. Schon der Bibel zufolge war vom Ararat alles neue Leben ausgegangen, denn hier war Noah mit seiner Arche angelandet. Und überdies war Armenien anno 301 das erste Land, in dem das Christentum zur Staatsreligion erhoben wurde. „Wir haben eine große Kultur“, sagt Nelly Manukyan, „wir saßen immer an der Quelle.“


Doch Armenien war immer auch der Spielball anderer Mächte: der Römer und der Parther, der Osmanen oder der Russen. Von der alten Größe ist daher nichts geblieben als ein Staat mit den Ausmaßen Brandenburgs, auf den der Ararat von außen seinen Schatten wirft. Ararat heißt heute in Armenien eine Bank, heißt ein Brandy, heißt ein Fußballclub in Eriwan.


Die Tragödie dieses Volks spiegelt sich bis heute in fast jeder armenischen Familie, auch in der von Nelly Manukyan. Die Urgroßeltern haben das durchlebt, was die Armenier „Aghet“ nennen, die „Katastrophe“ - so, wie auch das Wort Shoa im Hebräischen Katastrophe bedeutet. Sie haben den Völkermord der Jahre 1915/16 überlebt, der unter Führung der nationalistischen Jungtürken während des Ersten Weltkriegs an den armenischen Bewohnern des osmanischen Reichs verübt worden war.


Nelly Manukyan erzählt vom Urgroßvater mütterlicherseits, der aus Bitlis am Vansee stammt. Er kämpfte an der Seite des armenischen Widerstandshelden Kommandant Andranik, und als er heim kam, fand er im Brotofen die Köpfe seiner Frau und seiner Kinder. Auch die Urgroßmutter, in Kars geboren, verlor vier Kinder und den Mann. Die beiden trafen sich als Flüchtlinge in Tiflis und gründeten, im Leid vereint, eine neue Familie.


„Fast alle hier haben solche Wurzeln“, sagt Nelly Manukyan, und jeder sei mit solchen Geschichten aufgewachsen. Gesammelt werden sie in Eriwan auf einem Hügel über der Stadt, auf dem die Genozid-Gedenkstätte steht mit einem spitzen Obelisken, einer ewigen Flamme und einem Museum des Grauens. Hier gedenken die Armenier der Opfer der Massenmorde, der Vertreibungen und erzwungenen Hungermärsche - und sehen sich zugleich gezwungen, von hier aus der Welt zu beweisen, dass ihre Katastrophe tatsächlich ein Völkermord gewesen ist.


Die Leugnung dieses Genozids ist bis heute offizielle Politik der türkischen Regierung, und in der Forschung gibt es nicht einmal Einigkeit über die Zahl der Toten. Je nach Schätzung sind es 300.000 bis 1,5 Millionen. Die Beweislast wird den Nachfahren der Opfern auferlegt. In den Jahrzehnten, in denen Armenien Teilrepublik der Sowjetunion war, blieb das Thema weitgehend tabuisiert. Im Westen erschien es zu Zeiten des Kalten Kriegs nicht opportun, den Nato-Partner Türkei zu vergrämen.


Erst seit der Unabhängigkeit 1991 nimmt der Staat Armenien international den Kampf wieder auf - gegen das Vergessen, gegen das Schweigen und gegen die Ignoranz der Welt ihrem Unglück gegenüber. Leicht ist das bis heute nicht, zumal sich stets neue Tragödien ereignen in Armenien. Mal ist es ein Erdbeben, mal ein Krieg, und immer gibt es hohe Verluste. Zuletzt ging auch noch die Enklave Bergkarabach verloren, um die jahrzehntelang gekämpft worden war mit Azerbaidschan. Mehr als 100.000 Armenier kamen so im Herbst 2023 als mittellose Flüchtlinge im Mutterland an. Der neue Verlust riss auch alten Wunden wieder auf. Unsicherheit und Angst sind zu spüren in Eriwan.


An der Last der Geschichte hat das Land schwer zu tragen. Seit dem Genozid ist das armenische Volk über die ganze Welt verstreut. Von zehn Millionen ethnischen Armeniern leben nur drei Millionen in ihrem Heimatland. „Wenn ich für Auftritte im Ausland bin, weiß kaum jemand, wer die Armenier sind und wo Armenien liegt“, sagt Nelly Manukyan. Sie verweist dann auf den großen armenischen Komponisten Aram Chatschaturjan oder auf Charles Aznavour, den weltbekannten Chansonnier. Und wenn gar nichts mehr hilft, dann eben auf Kim Kardashian - die kennt jeder, die hat einen armenischen Vater, und sie war von Kalifornien aus auch schon zu Besuch in Eriwan.


Wie der Einzelne lebt mit dieser Last, das ist ein Stoff für unzählige und grundverschiedene Geschichten. Die Geschichte von Nelly Manukyan handelt von einer alleinerziehenden Mutter, die mit ihrer 17-jährigen Tochter in einer Einzimmer-Wohnung lebt. Die sich seit dem plötzlichen Tod Ihres Vaters vor acht Monaten auch noch um ihre Mutter zu kümmern hat. Die fast jeden Abend ein Konzert spielt, um über die Runden zu kommen. Latin-Jazz spielt sie, Jazz-Rock, klassischen Jazz und auch Klassik. Und wenn sie am Abend auf der Bühne steht, dann strahlt und sprüht sie vor Energie.


Die Geschichte von Nelly Manukyan handelt also allem zum Trotz auch von der Leichtigkeit im Schweren. Von einer Künstlerin, die in der Musik keine Grenzen kennt, aber überall, wo sie auftritt auf der Welt, auch mit Stolz Armenien vertritt. „Ich bin kein politischer, sondern ein emotionaler Mensch“, sagt sie, „und die Jazz-Musik hat mein Leben verändert.“


Im 12. Stock des Paris-Hotels spielt ihre Band den dritten und letzten Set des Abends. Es wird getrunken, geraucht, getanzt. Die Band liefert den Rhythmus, Nelly Manukyan reiht ein fabelhaftes Flöten-Solo an das nächste. Der Ararat hat sich heute nicht gezeigt im Abendlicht, dazu war der Tag zu heiß und die Luft zu trüb. Aber beim nächsten oder übernächsten Mal, da wird er wieder zu sehen sein von der Bühne aus. Nelly Manukyan wird glücklich sein zu spielen und glücklich, ihn zu sehen.


Eriwan, August 2025

 
 
 

Kommentare


bottom of page