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Kirgisistan: Ruft uns der Berg?

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Mal ist der Weg steil, mal sehr steil, und der Atem findet keinen Rhythmus. Ein Keuchen und ein Japsen bei jedem Schritt, so laut und so erbarmungswürdig offenbar, dass Chubak Almasbekov irgendwann stehen bleibt und sich umdreht. „Wir haben ein altes Sprichwort“, sagt er: „Geh wie eine Ente, und du erreichst den Pass.“


Danke dafür, Chubak! Ein weises, rettendes Wort von einem 23-Jährigen, der unser Führer ist auf einer Wanderung durch die kirgisische Bergwelt. An einem Jurtencamp oberhalb des Issyk-Kul hat sie begonnen. Der riesige Gebirgssee und der unendlich weite Himmel strahlen tiefblau um die Wette. Dazwischen ragen die Gipfel des Tian-Shan-Gebirges auf.


„Himmelsgebirge“ heißt das übersetzt, und natürlich hat man dem Ruf dieser Berge zu folgen. Was ist dagegen schon das Gequatsche eines Reiseleiters, der beim Frühstück am Nebentisch seine Gruppe mit allerlei alpinen Horrorgeschichten unterhalten hatte: Vom Bergsteiger, den hier in der Gegend beim Aufstieg der Tod ereilte. Von seiner Frau, die hilflos mit gebrochenem Bein neben ihm ausharrte. Als es schließlich um die herbeigeeilten Retter ging, die in dem unwegsamen Gelände ebenfalls ihr Leben ließen, ließen wir den Kaffee stehen und schnürten unsere Schuhe.


Chubak erwartete uns schon mit freundlichem Lächeln, sein Chef bestätigte uns vor der Abfahrt noch, dass die Deutschen in den Bergen zu den Besten gehören. Das beflügelt, auch wenn es am Ende nur die Flügel einer Ente sind. Ohnehin haben wir unser Ziel eher bescheiden abgesteckt. Nicht auf die felsigen Zacken soll es gehen, die hier auf mehr als 5000 Meter aufragen, und schon gar nicht auf den Dschengisch Tschokusu, den exakt 7439 Meter hohen König der kirgisischen Berge. Eine Rundtour haben wir gewählt auf mittlerer Höhe, wo die Aussicht spektakulär und die Luft schon ziemlich dünn ist. Atemberaubend insgesamt.


Vor allem zum Wanderen fährt man schließlich nach Kirgisistan, wo 90 Prozent der Landesfläche über 1500 Metern liegen, wo sich zwischen schroffen Gipfeln und tiefen Tälern wunderschöne Hochwiesen ausbreiten, auf denen die Hirten von April bis zum Oktober ihre Schafe, Ziegen und Kühe weiden - und ihre Pferde natürlich. Die Kirgisen lieben ihre Pferde, das sagt jeder und auch Chubak bestätigt das. Stoisch tragen die Rösser Lasten und Touristen, und sie helfen den Hirten dabei, die Herden zusammenzuhalten. „Sie machen ihren Job immer gut“, sagt Chubak. „Und wenn es an der Zeit ist, dann werden sie gegessen.“


Das Idyll ist was für Dichter, nicht für hungrige Hirten. „C’est la vie, sagt der Franzose“, merkt Chubak noch an, und damit ist das Thema auch erledigt. Beim Aufstieg geht er ruhig voraus, mit den federnden Schritten eines Jünglings und der Umsicht eines erfahrenen Wanderführers. Er braucht keine Markierungen und keine Wege. Er ist hineingewachsen in diese Welt der Weiden und der Berge. Unten am See ist er zur Schule gegangen, in der Hauptstadt Bischkek hat er studiert und sich damit die Chance eröffnet, im Ausland zu arbeiten und Geld zu verdienen. Nach Russland hat es ihn verschlagen, auf eine Großbaustelle nah an der chinesischen Grenze. Flaches Land, so weit er blicken kann. „Ich habe die Berge so vermisst, sagt er. „Ich war krank vor Sehnsucht.“


Zwei Wochen Urlaub hat er im Jahr, und die hat er genutzt für einen Flug in die Heimat. Nun führt er mit andächtiger Freude im Ferienjob durch seine Berge. Wir folgen ihm gern, im Entenmarsch natürlich, und irgendwann ist tatsächlich der Pass erreicht. Von dort aus geht es noch über einen breiten Grat zum höchsten Punkt des Weges, wo die schneegekrönten Gipfel rechts und links Spalier stehen.


Die Welt hier oben auf 3400 Metern Höhe ist von solch erhabener Stille, dass selbst die Greifvögel es nicht wagen, mit den Flügeln zu schlagen und lautlos durch die Lüfte gleiten. Wo keine Bäume sind, ist Gras. Wo kein Gras ist, sind Steine. So einfach ist das in der Natur. Irgendwas ist immer da, und immer ist es schön. Denn jeder Baum ist anders, jeder Grashalm, jeder Stein.


Solche Einsichten sind es, die sich beim Wandern erschließen, im dialektischen Prozess zwischen grandioser Aussicht und dem Blick nach Innen. Allerdings ist es auf diesem Weg oft auch nur ein kleiner Schritt von der Philosophie zur Orthopädie. Beim Abstieg wird das spürbar. „Zickzack“ hat Chubak als Losung ausgegeben für die Rückkehr ins Tal. Schnell schmerzen die Knie, brennen die Sohlen. Im pochenden Kopf kreisen nur noch ein paar Restgedanken darum, ob es vielleicht doch sehr deutsch ist, dass man den anstrengenden Aufstieg fraglos, klaglos und atemlos durchzieht, aber beim Abstieg statt zu pfeifen schnell die Lust verliert.


Chubak jedenfalls scheint frei zu sein von solchen philosophischen Zweifeln und auch von den Gelenkproblemen. Zielstrebig führt er durchs Unterholz und später durch den dichten Wald. Als schließlich der Blick frei wird auf die ins Weideland hineingesprenkelten Jurten, lassen auch wir uns endlich anstecken von seiner ruhigen Zufriedenheit. Mit schweren Beinen und leichtem Kopf erreichen wir nach fast acht Stunden wieder unseren Ausgangspunkt. „Das haben wir gut gemacht“, sagt Chubak.


Tong, September 2025


 
 
 

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