top of page

Österreich: Das Prinzip Heimat

Aktualisiert: 17. Juni


ree


Es war schon länger her, die Erinnerung war ein wenig verblasst, der Geschmack der Speisen lag längst schon nicht mehr auf der Zunge - aber die Sehnsucht war geblieben: Wieder mal ins „Rebhuhn“ gehen, hinten im Eck an einem der Holztische sitzen, in Wien ein Wiener Schnitzel essen. Ist das noch Fernweh oder schon Heimweh? Egal. Dass sich in Richtung „Rebhuhn“ auch der weiteste Weg lohnt, war spätestens dann klar, als der Kellner hinter dem Tresen stand und sagte: „Herr Peter, das ist aber schön, dass Sie wieder da sind.“


Unterwegs zu sein bedeutet, sich für Neues zu öffnen und dem Abenteuer auszuliefern. Doch ein Abenteuer macht nicht satt, und meistens macht es müde. Dann braucht der Reisende einen Platz der Ruhe, einen Rückzugsort, eine Heimat in der Fremde. Kurzum, er braucht ein Stammlokal.


Was ein Lokal zum Stammlokal macht, ist schwer zu definieren, es ist darin einer Liebschaft ähnlich. Es geht um Anziehung, gar nicht unbedingt um äußere Attraktivität. Angenommen muss man sich fühlen und angekommen. Ein Stammlokal ist ein Ankerplatz im Wellengang der Welt.


Finden lässt es sich überall. Es kann eine Teestube sein in Thailand, eine Rooftop-Bar in New York - oder eben das Rebhuhn in Wien, das „beste Beisl im Neunten“, wie der Wiener sagt, und der Wiener lügt nicht. Also, nur wenn es sein muss …, und hier muss es ganz bestimmt nicht sein.


„80 Prozent meiner Kundschaft sind Stammgäste“, sagt Caroline Kargl, die das Rebhuhn seit mehr als 20 Jahren führt. Entspannt sitzt sie Gastraum, viel Holz im Blick von der Wandvertäfelung über die Theke bis hin zu Tischen und Stühlen und sogar zu den Lampen, die jenseits jeder Stilberatung von schmiedeeisernen Ketten an zentnerschweren Balken gehalten werden. Das war schon immer so, und so soll es bleiben, findet die Wirtin, finden die Gäste.


Caroline Kargl ist nicht nur Wirtin, sondern zugleich auch Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Durchaus artverwandt erscheinen ihr die beiden Professionen, zumal in Wien. Denn erstens geht es im Gastgewerbe nicht nur um das leibliche, sondern auch ums seelische Wohlergehen - und zweitens steht das Rebhuhn in der berühmten Berggasse schräg gegenüber von jenem Haus, in dem einst Sigmund Freud lebte und die Psychoanalyse begründete, bis er 1938 vor den Nazis fliehen musste.


Auch der alte Freud, das darf man annehmen, ist also schon ins Rebhuhn eingekehrt. Denn seit Beginn des 20. Jahrhunderts bereits wird hier das Viertel bewirtet. Die Eltern von Caroline Kargl führten das Haus von den frühen Siebziger- bis in die Neunzigerjahre. Sie wurde dort hineingeboren - und wollte dennoch niemals Wirtin werden. Als sie nach Berlin aufbrach, um in den Medien zu arbeiten, war das Gasthaus vermietet. Ein paar Streitereien und einen Richterspruch später aber rief der Vater eines Tages ins Telefon: „Caro, das Lokal gehört uns wieder.“


Sie kehrte zurück, um dem Rebhuhn neues Leben einzuhauchen. Aufgesperrt wurde anfangs nur am Abend, nur für ein paar Stunden, nur für Freunde. Die Idee: „Wir gestalten etwas, wie wir uns das selber wünschen würden als Gast“, erklärt sie, „wie ein verlängertes Wohnzimmer.“ Das hat sich dann herumgesprochen in Wien und in der Welt, bis hin zu jenem Influencer aus Fernost, der eine Zeitlang koreanische Honeymooner in stattlicher Zahl ins Rebhuhn lockte.


Das Rebhuhn hat auch das überstanden. Jede Welle ebbt ab, das Meer bleibt bestehen. So kehrt man ins Rebhuhn, den Ankerplatz, von überall in der Welt immer wieder gern zurück. Und vom Rebhuhn aus bricht man gestärkt wieder auf in die Welt.


Wien, 20. Mai 2025

 
 
 

Kommentare


bottom of page